WISSEN, BEGREIFEN, EMPATHIE, MORALITÄT UND HANDELN.
Aktuelle Ziele des Vereins
Unsere Arbeit geschieht im Blick auf drei Zielgruppen. Die Bürgerinnen und Bürger im Landkreis sollen Gesprächs- und Informationsmöglichkeiten haben und mit vielfältigen Veranstaltungen sich mit den Themen der ehemaligen Synagoge auseinandersetzen können. Schülerinnen und Schüler sollen in schulischen und außerschulischen Angeboten angesprochen werden. Lehrerinnen und Lehrer sowie Referendarinnen und Referendare sollen Möglichkeiten der Fortbildung und des Gespräches haben, sowie Unterstützung bei eigenen oder gemeinsamen Projekten erfahren.
Der Ort
Das Erdgeschoss dient als Raum für kleinere Veranstaltungen, Konzerte, Lesungen und Ausstellungen. Das Obergeschoss ist als moderner Unterrichtsraum für Schulklassen, aber auch für die außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung eingerichtet. Inhalte der Bildungsarbeit sind nicht nur Nationalsozialismus und Judenverfolgung, sondern auch aktuelle Fragen des Rassismus, des Rechtsextremismus und der Menschenrechte.
Projekte
Schaumburger Schreibwettbewerb Spuren Schreiben (www.spuren-schreiben.de): Erstmalig 2019/2020 durchgeführt mit 180 eingereichten Arbeiten von Schülerinnen und Schülern aus ganz Schaumburg.
Schulübergreifendes Theaterprojekt in Schaumburg: Die Gruppen erarbeiten Szenen und Texte und setzen sie um. Am Ende stehen Vorführungen an mehreren Schulen und voraussichtlich auch eine Präsentation an einer Partnerschule in Slubca / Polen.
Studienreisen: Regelmäßig bieten wir Reisen zu Themen unserer Arbeit an. Dazu gehören Ziele in Polen, dem Baltikum, der Ukraine und Israel sowie jährlich ein mehrtägiger Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz.
Lesungen - Vorträge - Workshops
Zum Beispiel mit Dagmar Nick aus ihrem Buch „Lisa Morgenstern”,
eine Vortragsreihe anläßlich des Jahrestages den Novemberpogroms,
ein Wokshop zur Literatur des Holocaust und ein Argumentationstraining gegen Rechts,
usw.
Erinnerungsort
Gedenkveranstaltung der Evangelischen Jugend zum Novemberprogrom. Und jährlich „5 Minuten für 6 Millionen” - Holocaustgedenken mit Schülerinnen und Schülern in Stadthagen.
Ausstellungen
Eigene Ausstellungen zu verfolgten Menschen aus Schaumburg („entrechtet vertrieben ermordet – Verfolgte des Nationalsozialismus in Schaumburg“) und zur Geschichte des KL Auschwitz. Aber auch Gastausstellungen zB. "Hoffnung, Licht und Stille" im Dezember / Januar 2018/19.
Konzerte
Unsere Konzerte finden oft auch in externen Räumen statt, da die Zahl der Besucher die Möglichkeiten der Synagoge sprengen. Zu den Gästen zählten zB. das Nodelmann-Quartet, Polina und Merlin Shepherd oder „Swing tanzen verboten — als Jazzmusiker im III.Reich” Gesprächskonzert mit dem Emil Mangelsdorf Quartett
Jahr für Jahr organisieren wir ein vielfältiges Musik-, Vortrags- und Workshop-Programm und schreiben unser inhaltliches Angebot fort.
Unsere Ziele - wie es anfing
In einem Beschluss der Mitgliederversammlung am 4. Juni 2009 wird die Einrichtung eines Lern- und Gedenkortes programmatisch beschrieben. In den folgenden Jahren - bis 2017 - konnte dieses Konzept vollständig realisiert werden.
Vorläufiges Konzept für die zukünftige Nutzung der ehemaligen Synagoge Stadthagen
Die Mitgliederversammlung hat am 04.06.2009 das vorläufige Konzept beschlossen.
Vorüberlegungen
Konsens besteht, nach den Beschlüssen des Rates der Stadt Stadthagen und den Ergebnissen des Diskursprojektes zur Erinnerung in Schaumburg, darüber, dass die ehemalige Synagoge in Stadthagen in erster Linie als Lernort genutzt werden soll, um dem Gedanken der nachhaltigen Vermittlung des historischen Geschehens und damit der Erinnerung gerecht zu werden. Mittel- bis langfristig könnte sie dann auch Knotenpunkt eines vernetzten Schaumburger Erinnerungsprojektes sein. Da das Gebäude selbst aus denkmalpflegerischen und bauhistorischen Gründen keine große Bedeutung hat und geeignete Exponate etwa zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Stadthagens nicht zur Verfügung stehen, empfiehlt sich eine rein museale oder annähernd originale Rekonstruktion des Gebäudeinneren nicht. Allerdings sollte bei der Gestaltung des Innenraumes eine mögliche Nutzung durch eine eventuell in der Zukunft entstehende jüdische Gemeinde in Stadthagen nicht außer Acht gelassen werden. Die Außengestaltung dagegen soll deutlich den historischen Charakter der früheren Gebäudenutzung als Synagoge kenntlich machen. Weil erhebliche finanzielle Mittel aufgewendet werden müssen, um die ehemalige Synagoge zu einem attraktiven und als Lernort nutzbaren Gebäude auszubauen und dauerhaft zu erhalten, ist nur eine möglichst vielfältige und häufige Nutzung zu rechtfertigen, die die realistischen Möglichkeiten vor Ort einkalkuliert und zur Grundlage der Planung macht.
Innengestaltung als Lernort und Veranstaltungsraum
Die Grundfläche der ehemaligen Synagoge beträgt etwa 50qm. Im ursprünglichen Zustand existierte die nach dem 2. Weltkrieg eingezogene Zwischendecke nicht, sondern nur eine Empore, auf der die Frauen an den Gottesdiensten teilnehmen konnten. Für eine pädagogische Nutzung erweist sich eine Zwischendecke jedoch als sinnvoll, weil sie die vorhandene Grundfläche in der ehemaligen Synagoge erheblich erweitert. So wäre es problemlos möglich, im Obergeschoß mit größeren Gruppen (bis zu 30/35 Personen) intensiv zu arbeiten (Gruppentische, PC-Stationen, Materialschränke, Medienschränke) und das Erdgeschoß als vielfältig nutzbaren Veranstaltungsraum zur Thematik der Erinnerung (Filmvorführungen, Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen, Besuchergruppen im Rahmen von Stadtführungen. Präsentation von Arbeitsergebnissen etc.) zu konzipieren. Stünde nur das Erdgeschoss zur Verfügung, wären die Möglichkeiten als Lernort für Projekttage z.B. erheblich eingeschränkt. Daher ist diejenige Lösung, die die meisten Optionen bietet, vorzuziehen.
Die ehemalige Synagoge als Lernort
Die Vorteile eines außerschulischen, noch dazu historischen Lernortes liegen auf der Hand: Die Normalität des Schulalltags wird durchbrochen, die Motivation steigt, die Ernsthaftigkeit des Themas wird den Lernenden deutlicher, eine längere konzentrierte Auseinandersetzung mit einem Thema wird möglich. Dazu sollte der obere Raum mit ca. 10 PC-Stationen (alternativ Laptops) mit Internetanschluss (Recherche), Scanner, Drucker, Digitalkamera und einem Fotokopierer etc. ausgestattet sein (mit Zugriffsmöglichkeit auf Deckenbeamer im Erdgeschoß), mit 4-5 Arbeitstische und einer entsprechenden Anzahl von Stühlen. An den Wänden befinden sich abschließbare Materialschränke, die - nach Themen und Altersstufen geordnet - Arbeitsmaterialien und eine Präsenz- und Medienbibliothek zu den Themen des Erinnerungsprojekts enthalten und bereitstellen. Die Themen sind so aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen, dass sie den Lernenden eine Adressaten bezogene größtmögliche Eigenaktivität zugestehen/abverlangen und sowohl lokale/regionalspezifische als auch exemplarische und innovative Möglichkeiten der Auseinandersetzung eröffnen. Gemäß den Vorgaben des Erinnerungsprojektes umgreifen diese Themenstellungen alle relevanten Fragen, die sich aus der NS-Diktatur, ihren Repressalien und Verfolgungen und aus den Verbrechen gegen die Menschheit ergeben.
Es muss sichergestellt sein, dass die begleitenden Lehrkräfte, Pädagogen und Gruppenleiter (nach entsprechenden Einweisungen in die Möglichkeiten des Ortes im Rahmen von regionalen Fortbildungen) in der Lage sind - ohne große externe Vorbereitungen und ohne großen Aufwand - den Ort mit ihren Schülern bzw. Gruppen zu nutzen. Die Nutzergruppen sollen aus allen Schulformen der Stadt Stadthagen und der näheren Umgebung gewonnen werden. Denkbar ist, auch die nicht allgemein bildenden Schulen (z.B. Heilerziehungspflegeschule zu Fragen des Umgangs mit behinderten Menschen während der NS-Zeit oder der Krankenpflegeschule am Klinikum zu Themen aus dem Bereich „Medizin ohne Menschlichkeit“) einzubeziehen. Ebenso sollten Konfirmanden- und Jugendgruppen genauso wie Gruppen der Erwachsenenbildung (VHS etc.) die Möglichkeiten dieses Lernortes nutzen können. Eine realistische Größenordnung liegt bei 40 bis 50 Projekttagen.
Die ehemalige Synagoge als Veranstaltungsraum und Gedenkort
Der Raum im Erdgeschoß ist der zentrale Raum für größere und repräsentative Veranstaltungen zum Gedenken und zur Erinnerung (s.o.). Er sollte daher weitgehend leer sein, um funktional vielfältig genutzt werden zu können. Für den Innenraum sind Klappstühle notwendig (ca. 40-50), die im Eingangsbereich rechts gelagert werden könnten; sie haben den Vorteil der Flexibilität. Die evtl. vorhandene frühere Bestuhlung/Einteilung des Innenraumes der Synagoge könnte auf dem Fußboden symbolisch kenntlich gemacht werden. Desgleichen wären der Talmud-Thora-Schrein (hier könnte auch die Menorah ihren Platz finden) und die Position des Vorbeters/Rabbiners wieder kenntlich zu machen. An der Stirnseite sollte auf dem Boden eine kleine Bühnenerhebung angebracht werden (für Veranstaltungen und szenische Möglichkeiten), an der Stirnwand eine Leinwand für Beamerprojektionen (Filmvorführungen, Präsentationen). Ein Beamer sollte unter der Decke bzw. an der gegenüberliegenden Wand fest installiert werden. Dazu gehören auch feste Lautsprecher. Einige Wände sollten weitgehend frei bleiben bzw. einer flexiblen Nutzung offen stehen, um sie für eigene Ausstellungen oder für Wanderausstellungen nutzen zu können. Einige Vitrinenschränke sollten für historische (sofern noch auffindbar) und andere Exponate (etwa zur jüdischen Kultur und Religion) vorgesehen werden. Sinnvoll ist es natürlich, zumindest einen Wandteil mit einer Dokumentation zur Geschichte der Synagoge und der Juden in Stadthagen zu versehen.
Nächste konzeptionelle Schritte
Wenn die MV diesem Vorschlag zustimmt, dann könnten/müssten parallel bzw. hintereinander folgende Aktivitäten starten:
1. Klärung der Finanzierung/Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten u. - modellen
2. Koordinierung der Baumaßnahmen und (nach Finanzierungszusagen) Einleitung der Baumaßnahmen
3. Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die sich nur mit der historischen Sammlung/Erforschung/Dokumentation/Spurensuche in Stadthagen u. Umgebung beschäftigt; dringende Empfehlung: Professionalisierung (ABM, Projekt, Promotion)
4. Beginn der Koordination im pädagogischen Feld (Kontaktaufnahme mit Schulen/Fachkonferenzen) und Erarbeitung geeigneter Projektmodelle (Arbeitsgruppe)
5. Planung von Veranstaltungen am 9.11.2009 (Ratsgymnasium; szenische Lesung mit kontrastierender Musik) und am 27.1.2010 (?) zwecks Öffentlichkeitsarbeit (unter Einbezug/Nutzung der Synagoge).
Pädagogisches Konzept
Unsere pädagogische Arbeit orientiert sich an den Grundsätzen einer demokratischen politischen Bildung. Programmatisch fasst Andreas Kraus in einem Beitrag den Diskussionsstand unseres Vereins zusammen und verankert diese Arbeit an der ehemaligen Synagoge in Stadthagen. Aber auch an regionalen Orten, die für ganze Themenbereiche stehen.
ANDREAS KRAUS
Pädagogik der Erinnerung und die Möglichkeiten eines kreisweiten Erinnerungsprojekts
Was ist Pädagogik in diesem besonderen Fall einer Pädagogik der Erinnerung? Es geht nicht, wie manchmal unterstellt wird, um ein Eintrichtern von Sachverhalten und entsprechenden Meinungen etwa zum Antifaschismus, oder um die Erzeugung von Betroffenheit. Pädagogik kann man vielmehr definieren als die bewusste und verantwortungsvolle, von dafür ausgebildeten Menschen wie Lehrern geleitete Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt. Sie ist also deutlich unterschieden etwa von der Tätigkeit des rituellen Gedenkens oder von politischer Propaganda. Sie ist am Gespräch orientiert und lässt selbstverständlich unterschiedliche Interpretationen zu. In der politischen Bildung sprechen wir diesbezüglich von einem Überwältigungsverbot. Die Menschen sollen zu Einsichten kommen, indem sie selbständig, aber an der Sache und an Argumenten orientiert, ihren Verstand gebrauchen.
Der Gegenstand einer Pädagogik des Erinnerns ist leider nicht, wie z.B. in der Mathematik der Satz des Pythagoras oder in der Biologie der Stoffwechselprozess von Fruchtfliegen, völlig wertneutral und emotionslos. Es geht auch nicht, wie bei vielen Feierlichkeiten anderer Nationen um eine melancholische Erinnerung an die ehemalige Größe der eigenen Nation oder an gewonnene Kriege. Es geht leider ebenfalls nicht um angenehme Erinnerungen, wie es z.B. bei Urlaubserinnerungen oder Erinnerungen an das letzte Schützenfest der Fall ist. Es geht um schmerzhaftes Erinnern, das gegen den Wunsch des Vergessens durchgesetzt werden muss, weil der Sachverhalt, auf den sich das Erinnern bezieht, Verbrechen wie Mord und Diebstahl sind. An denen waren viele Schaumburger als Täter oder Zuschauer beteiligt. Es geht um einige hundert Menschen – Juden, Behinderte, politisch Verfolgte, Kriegsgefangene usw. - , die hier in Schaumburg lebten und denen ihre Rechtsgüter (Besitz, Würde, Leben) genommen wurden.
Besonderheiten einer Pädagogik der Erinnerung: Wissen, Begreifen, Empathie, Moralität und Handeln
Wissen
Dass ein Wissen um diese Geschehnisse besser ist als ein Nicht-Wissen oder eine Verdrängung, diese Erfahrung hätte das Stadthäger Kaufhaus Hagemeyer 1988 vor einer Blamage bewahrt, als es den 50. Jahrestag seiner Geschäftseröffnung feierte, ohne den Sachverhalt der Arisierung zu erwähnen. Auch eine Feier mit einer Nacht der Sterne am 9.11.2007, wie hier in Stadthagen, ist vor dem Hintergrund der so genannten „Reichskristallnacht“ am 9.11.1938 makaber. Wissen, so zeigt sich, muss hergestellt werden. Es wird darum gehen, die vielfältigen und komplexen historischen Sachverhalte so genau und umfassend wie möglich aufzubereiten, zu rekonstruieren. Hier rächt sich auch der späte Zeitpunkt unseres Erinnerungsprojekts: Es gibt kaum noch unmittelbare Zeitzeugen in unserer Gesellschaft. Vieles von dem, was hätte bewahrt werden müssen an Kenntnissen, ist gestorben. Aber hierum wird es beim Aspekt des Wissens gehen müssen: Um eine möglichst genaue Rekonstruktion der historischen Alltagswelt der Zeit zwischen 1933 und 1945 (aber auch davor und danach) – das betrifft Personen, Täter wie Opfergruppen, Ereignisse, Orte und Räumlichkeiten usw.. Es ist die Aufgabe der Historiker, möglichst viele Daten und Dinge aus dieser Zeitspanne zu sammeln, zu ordnen, darzustellen und verfügbar zu machen. Natürlich wird dies nur exemplarisch geschehen können; gleichzeitig muss es anschaulich aufbereitet werden, nicht als abstrakte Daten, sondern versehen mit Bildmaterial, anschaulichen Objekten und vielem anderen mehr. Wissen ist die erste Stufe des Lernens.
Begreifen
Neben dem Wissen um die Geschehnisse geht es auch um ein Begreifen und Verstehen der Zusammenhänge. Es geht um ihre kausale und gleichzeitig komplexe Einordnung. So kann man z.B. dem Prozess der Vernichtung der europäischen Juden eine Struktur zuschreiben, die mit ihrer Definition als Feindgruppe begann, dann ihre Entrechtung, ihre Ghettoisierung, ihre Deportation und schließlich ihre Ermordung beinhaltete. Der letzte Schritt wurde bekanntlich in Schaumburg nicht vollzogen, aber alle anderen, die die Voraussetzung für den letzten Schritt bildeten, sehr wohl. Daher kann man sagen: Von Schaumburg nach Auschwitz (oder Riga, Theresienstadt, Warschau, Treblinka...). Auch die Motive müssen begriffen werden, um zu verstehen, wohin sie führen können innerhalb des Vernichtungsprozesses: Antisemitismus als rassistische Ideologie der Ungleichheit; antidemokratisches Denken zur Legitimation der Diktatur; Gleichgültigkeit gegenüber den Nachbarn, aber auch Angst als Ermöglichungsgrund von Verschleppung; Profitgier und Neid als Motiv, bei der Ausschaltung des jüdischen Konkurrenten zu applaudieren. Begreifen ist die zweite Stufe einer Pädagogik der Erinnerung.
Empathie
Aber wir haben auch Grenzen des Verstehens – sie betreffen die Tatsache dieses Rückfalls einer hoch zivilisierten Gesellschaft in die Barbarei, die Frage, weshalb ganz normale Menschen zu Mördern werden. An dieser Frage werden wir uns nur abarbeiten können, ohne sie definitiv beantworten zu können.
Es steht nicht Trauer im Vordergrund, wenn wir uns den Opfern zuwenden. In der Regel trauert man ja nur um die eigenen, nahe stehenden Menschen, wenn sie verstorben sind. Und es geht bei einer Pädagogik des Erinnerns auch nicht um Betroffenheit. Empathie ist das treffende Wort: Ein Hineinfühlen, Hineindenken in die Situation der Verfolgten und daraus folgend die Entwicklung einer moralischen Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit für Leid und Unrecht. Empathie ist das dritte Element einer Pädagogik des Erinnerns.
Leider wissen wir nur wenig darüber, was Menschen, wie z.B. Oskar Schindler befähigte, sich moralisch zu verhalten, sich für unrechtmäßig Verfolgte und Gedemütigte einzusetzen. Aber vielleicht soviel: Nötig ist eine innere Autonomie, d.h. eine Unabhängigkeit von staatlichen oder anderen Ideologien, einhergehend mit einem moralischen Selbstbewusstsein, das sich bewusst ist, dass man selbst für sich und seine Umgebung moralisch verantwortlich ist. Orientierungspunkt ist die Anerkennung des anderen Menschen als Anderer, der genau die gleiche Menschlichkeit und alle Rechte besitzt, die auch mir zukommen. Man muss intuitiv davon überzeugt sein, dass die Menschenrechte uneingeschränkt und jederzeit für alle gelten. Am Schicksal der Verfolgten und Ermordeten können wir erahnen, wie wichtig diese Disposition ist. Sie ist das vierte Element in einer Pädagogik des Erinnerns.
Diese Moralität ist wahrscheinlich eine wesentliche Motivation für ein Handeln, wenn es darauf ankommt. Für uns besteht die Moralität auch darin, die Erinnerung an das Leid vor dem Vergessen zu bewahren.
Möglichkeiten eines dezentralen kreisweiten Erinnerungsprojekts
Wenn man den Gedanken ernst nimmt, dass sich die gesamte Region Schaumburg ihrer Verantwortung für die Geschichte bewusst wird und gleichzeitig nicht nur der jüdischen Opfer gedenken will, sondern im o.g. Sinn einer Pädagogik der Erinnerung agieren will, dann bietet es sich an, bei den vorhandenen Möglichkeiten anzuknüpfen, sie auszubauen und nach dem Stationenprinzip kreisweit zu vernetzen. Das wäre auch, wenn ich die Situation in der Bundesrepublik richtig überblicke, ein einmaliges und innovatives Konzept.
Zentraler Ort wäre dann sicherlich in Stadthagen die ehemalige Synagoge, in der das Schicksal der Schaumburger Juden im Vordergrund stünde. Auf dem Gelände des „Steinzeichens“ im Steinbruch Steinbergen haben wir schon ein Denkmal, das an die Kriegsgefangenen und die industrielle Ausbeutung der Zwangs- und Sklavenarbeiter erinnert. Warum sollte man dieses Denkmal dort nicht durch Räumlichkeiten ergänzen, die Materialien zur weiteren Auseinandersetzung bereitstellen?
In Schaumburg, einer ländlichen Region, waren während des Krieges viele Zwangs- und Sklavenarbeiter in der Landwirtschaft tätig. Das „Lauenhäger Bauernhaus“ in Lauenhagen wäre ein geeigneter Ort, um sich mit ihrem Alltag in den Dörfern und Höfen zu befassen. Obernkirchen wäre, wie in den Beiträgen von Klaus Maiwald und Rolf de Groot zu lesen ist, ein sinnvoller Ort, um etwas über die politisch Verfolgten und auch den Widerstand hier in der Region zu erfahren.
Schaumburg hatte keine Anstalten für seine psychisch Kranken, sie waren in Wunstorf und in der Anstalt Eben-Ezer bei Detmold untergebracht. Sie wurden, wie wir wissen, im Rahmen des sog. Euthanasie-Programms in dafür bestimmten Anstalten z.B. in Hadamar getötet. In unseren Krankenhäusern in Stadthagen und Bückeburg wurden Frauen zwangssterilisiert. Über das Schicksal unserer geistig behinderten Mitmenschen, etwa derjenigen, die während des Dritten Reiches mit dem Down-Syndrom geboren wurden, wissen wir nur wenig. Weshalb schaffen wir nicht, etwa in Stadthagen oder Rinteln (z.B. in Kooperation mit der Lebenshilfe, der Paritätischen Gesellschaft Behindertenhilfe oder dem Gesundheitsamt), einen Ort für die Beschäftigung mit dem Schicksal behinderter und psychisch kranker Menschen aus unserer Region?
In Bückeburg ist das Archiv im Seitenflügel des Schlosses gut vorstellbar als Ort für die Auseinandersetzung mit der Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus in Schaumburg. Und in Rinteln, dem Sitz der Schaumburger Zeitung, die sich damals als NS-Blatt besonders hervortat, könnte man einen Ort für die Auseinandersetzung mit Propaganda und Antisemitismus in Schaumburg schaffen. Wie man unschwer erkennen kann, ist z.B. die Gegend um Bad Nenndorf und Rodenberg nicht vertreten. Es müsste überlegt werden, wie ein Einbezug möglich ist.
Anknüpfungspunkte gibt es sicherlich. Ebenso sind auch noch andere Themen denkbar.
Diese Themen und Orte sollten miteinander vernetzt werden; dadurch werden historische Zusammenhänge untereinander verknüpft und erklärbar gemacht. Die Konzentration auf ein Thema an einem Ort dürfte lernpsychologisch dabei besonders fruchtbar sein. Gleichzeitig bringt dieses dezentrale Erinnerungsprojekt zum Ausdruck, dass die Region als Ganzes an den Verbrechen beteiligt war und nun in der Gegenwart an der Erinnerung beteiligt ist, und es würde damit auch für die Einbindung von Bürgern und Kommunen in der Region sorgen.
Eine derartige Realisierung des Erinnerungsprojektes würde langfristig und nachhaltig wirken, es wäre nicht singulär und abgeschlossen, wie es z.B. die alleinige Errichtung eines Denkmales wäre, von dem man nach 20 Jahren häufig nicht mehr weiß, weshalb und warum es errichtet wurde. Deshalb müsste es auch in institutionalisierten Bildungsprozessen, wie in Schulen oder auch in der kirchlichen Jugendarbeit, verankert werden. Ich könnte mir gut vorstellen, dass an den jeweiligen Orten zu den Themen von Klassen, Kursen oder Jugendgruppen ein Workshop oder ein Projekt durchgeführt wird. Konzipiert werden müsste es als offenes Erinnerungsprojekt, das z.B. Themenerweiterungen oder Aktualisierungen zulässt, d.h. es müsste auch Gegenwarts- und Zukunftsbezüge haben.
In einem ersten Schritt geht es bei einer Realisierung um eine Sichtung der Quellen und Materialien, sicherlich auch um Interviews mit den letzten noch lebenden Zeitzeugen. Diese müssten dann didaktisch und pädagogisch aufbereitet werden, um sie sinnvoll weiter vermitteln zu können. Schließlich müsste eine räumliche Umsetzung an bzw. in den vorgesehenen Orten stattfinden. Als Zeitrahmen könnte ich mir drei bis fünf Jahre vorstellen.
Wir brauchen eine kreisweite Koordination, die z.B. die Arbeitsgruppe Geschichte bei der Schaumburger Landschaft leisten könnte. Natürlich müssten auf der politischen Ebene der Kreistag und die Stadt- oder Gemeindeparlamente das Projekt unterstützen. Für die eben genannten Schritte der Realisierung wäre es sinnvoll, projektgebunden einen Historiker und einen Museums- bzw. Ausstellungspädagogen zu beschäftigen. Einiges könnte man sicherlich auch, in Kontakt mit den Universitäten, als Abschlussarbeiten oder Dissertationen vergeben. Sofern vorhanden und sinnvoll, sollten auch lokale Initiativen und Institutionen (z.B. städtische Museen, Einrichtungen wie die Lebenshilfe) eingebunden und beteiligt werden. Zu Projekten gehört eine Projektfinanzierung, die über entsprechende Fördertöpfe zu realisieren wäre, sicher auch Spenden oder auch Mittel der Kommunen. Dann müsste auch mit den Schulen und den dortigen Fachkonferenzen sowie den Einrichtungen der Jugendarbeit rechtzeitig Kontakt aufgenommen werden um zu klären, ob sie es sich vorstellen können, das Erinnerungsprojekt in ihre curriculare Arbeit mit aufzunehmen.
aus: WEGE ZUR ERINNERUNG, Das Projekt zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Schaumburg 2007-2008, Schaumburger Landschaft (Hg.) / Verlag für Regionalgeschichte